Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um den 4.Teil des Aufsatzes „Beargwöhnte Fremde und ein Hauch des Südens – Beobachtungen über eine katholische Gemeinde im protestantischen Umfeld“ von Rupert Appeltshauser, erschienen in der Festschrift zum 150jährigen Jubiläum der Pfarrkirche St. Augustin im Jahre 2010.
Eine ganz persönliche, über die regional bedingte Prägung weit hinausgehende Veränderung des Blickwinkels ergab sich durch das Zusammentreffen mit dem heimatlichen Umfeld meiner Frau. Sie stammt aus einer Gegend, die nach der bekannten Regel des Komparativs zu den schwärzesten gehört, die es in Deutschland überhaut gibt: der Diözese Paderborn. Bei Besuchen konnte ich unter umgekehrtem Vorzeichen nun selbst erfahren, wie es ist, von außen auf einen konfessionell homogenen Kontext zu treffen. Wirklich tiefe Gräben existierten natürlich auch dort nicht mehr. Allerdings konnte man durchaus noch Leuten begegnen, die bei Besuchern oder neu Zugezogenen nicht an erster Stelle nach dem Woher, den Interessen oder nach dem Beruf, sondern danach fragten, ob sie gut katholisch seien. Auch kann ich mich noch deutlich daran erinnern, wie ich mich bei einem gemeinsamen Gottesdienstbesuch mit der Familie plötzlich, ehe ich mich versah, mit einer Hostie im Munde wiederfand. Die Überraschung war sicher beiderseits: Ich hatte mich offenbar nicht genügend auf die dort praktizierte, ziemlich direkte Form der Verabreichung eingestellt, während der Priester oder Pastoralassistent kaum vermuten konnte, gleich in den ersten Bankreihen auf einen Glaubensabtrünnigen zu treffen. Im Umgang mit Nachbarn und Bekannten wurden manche der kleinen Verlegenheiten einfach dadurch umgangen, indem man mich trotz meiner geringen äußeren und sprachlichen Affinitäten, aber wegen meiner Landeszugehörigkeit zum Bayern erklärte. Und als treue CSU- Wähler sind die Bayern ja bekanntlich alle katholisch.
Als in späteren Jahren die Kinder in Coburg heranwuchsen, erzogen in gut westfälisch-katholischer Tradition, gab mir das reichhaltig Gelegenheit, das Kirchen- und Gemeindeleben von St. Augustin mit neuen Augen zu erleben. Fragte man mich nach den entscheidenden Auffälligkeiten oder Unterschieden, würde ich an erster Stelle nicht die andere Gottesdienstordnung nennen. Denn die kirchlichen Rituale, die Messgewänder, der Weihrauch, das Niederknien, das andere Verständnis und die andere Durchführung des Abendmahls, das sind Merkmale, die wohl jeder kennt, der jemals einen katholischen Gottesdienst besuchte. Als wesentliche Kriterien würde ich auch nicht die mitunter höheren Besuchsquoten oder die lebendigere Gestaltung der Gottesdienste mit ihrer größeren Wirkung auf Auge und Sinne sehen. In dieser Hinsicht haben sich auch in der evangelischen Kirche wichtige Veränderungen vollzogen. Mir würde es vor allem um die unterschiedliche Tradition in der Auslegung des Wortes gehen. Und in diesem Zusammenhang könnte man gerade das Lehrverständnis, wie es aufgrund meiner persönlichen Kenntnis in St. Augustin gepflegt wird, als beispielhaft anführen.
Selbstverständlich gibt es da keine Ausschließlichkeit, aber aller Erfahrung nach tendiert der in der evangelischen Kirche tradierte Predigtstil eher zu einer Betonung der ethischen Dimensionen des Bibeltextes. Das ist mit Sicherheit nicht falsch, denn was wäre die christliche Botschaft ohne den moralischen Gehalt des Alten Testaments oder der Bergpredigt? Allerdings kann es nicht genügen, die Schrift in der Hauptsache nur als Handlungsanweisung für ein gottgefälliges Leben zu betrachten, in korrekter und gewissenhafter Erfüllung der Gebote allein dem Ziel der persönlichen Rechtfertigung und Freisprechung unterworfen. Wenn ich an die Vorbereitungsstunden und Gottesdienste der eigenen Konfirmationszeit und die Vorliebe des Pfarrers für den Katechismus und die Briefe des Paulus denke, war es genau dieser Gesichtspunkt, auf den sich in den meisten Fällen der Kern der Botschaft beschränkte: Höret das Wort, tuet Buße, folget einem gottgewollten Lebenswandel und die Seligkeit ist Euer! Gerade für junge, nach Sinnsuche dürstende Leute ein nicht immer zufrieden stellendes und erfolgreiches Angebot!
„Am Anfang war das Wort“ – mit Gewissheit schließt dieser berühmte Anfang des Johannesevangeliums auch die Möglichkeit einer Lebensorientierung im Geiste christlicher Wertmaßstäbe nicht aus. Aber da schwingt noch etwas anderes mit, das einen anderen Schlüssel des Zugangs erfordert. Das Wort wörtlich genommen und auf den griechischen Ursprung bezogen führt zum Begriff des „logos“, und damit verbindet sich nicht nur die Vorstellung eines vernünftigen und gottgewollten Handelns, sondern eines Natur- und Seinsprinzips schlechthin.
Nun lässt sich über die Offenheit der Haltung der katholischen Kirche und Theologie gegenüber dem Problem solcher Natur- und Seinsprinzipien gerne und viel streiten: Diejenigen, die sie als Naturgesetze verstanden haben wollten, traf nur zu oft der Bannstrahl der Ächtung, der Vorwurf der Ketzerei und die Drohung mit dem Feuertod. Aber trotz vieler unheilvoller Fehlgriffe hatte das Festhalten an der so genannten Lehre der zwei Wahrheiten auch sein Gutes: Das Wort, das ist einerseits zu verstehen als Gottes Offenbarung im strengen Sinne der Schrift, im Rahmen philosophischer Begrifflichkeit aber auch als Schöpfungs- und Erleuchtungsprinzip schlechthin, nachvollziehbar und erkennbar in den Dingen selbst. Aus diesem Verständnis von Offenbarung und Erkenntnis erklärt sich, weshalb der Vatikan trotz vieler dogmatischer Verirrungen noch heute eine eigene Sternwarte betreibt und in den Predigten in St. Augustin, besonders aus dem Munde von Dekan Reinwald, das Wort philosophische Auslegungsdimensionen erhalten kann, die man in der lutherischen, weitgehend moraltheologisch beeinflussten Lehrauffassung oft vermisst.
Fassen wir zusammen: Neben zahlreichen, Vorbehalten, Vorurteilen und Verhärtungen haben es die Coburger stets verstanden, auch freundlichere Variationsformen ihrer grundlegend transmontanen Geisteshaltung zu entwickeln. Dazu gehört die Fähigkeit, stets die Welt im Blick zu behalten, die sich jenseits des Banzer Berges auftut. Selbst wenn ihnen die Unbeschwertheit einer nach außen gezeigten Fröhlichkeit und Lebensfreude in manchen Zeiten etwas abgehen mochte, dort drüben konnte man so etwas immer finden in einer blühenden Biergartenkultur, einem sommerlich-fröhlichen Straßenleben oder in anderen Formen des öffentlich praktizierten Frohsinns.
Der Blick hinaus über den Horizont enger konfessioneller und damit kultureller Grenzen hat Coburg immer gut getan, sowohl in atmosphärischer als auch theologischer Hinsicht. Hinter der ersten Hügelkette, bei Vierzehnheiligen, Schloss Banz, am Staffelberg und in den Flussauen des Maintals, von wo aus die Domtürme und das Kloster Michelsberg aus der Ferne von den sieben Hügeln des fränkischen Roms grüßen, beginnt der Süden. Die Rolle eines Vorpostens dieses anderen Kosmos hat die Kirche und Gemeinde St. Augustin seit nunmehr 150 Jahren erfolgreich gespielt, und wenn beider Gott es will, soll es lange noch so bleiben!