Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um den 3.Teil des Aufsatzes „Beargwöhnte Fremde und ein Hauch des Südens – Beobachtungen über eine katholische Gemeinde im protestantischen Umfeld“ von Rupert Appeltshauser, erschienen in der Festschrift zum 150jährigen Jubiläum der Pfarrkirche St. Augustin im Jahre 2010.
Schlichtheit und Nüchternheit, das klingt wie Ordnungssinn, Strebsamkeit und Verzicht, verweist also auf Tugenden, die nach Max Webers bekannter Studie zu den zentralen Elementen der protestantischen Ethik gehören, oft assoziiert mit einer gewissen Freudlosigkeit der Lebensgestaltung. Dass sie in Coburg zumindest in der Vergangenheit (oder, besser gesagt, vor Sambazeiten) keine geringe Wertschätzung erfuhren, ist wohl kaum zu bestreiten. Andererseits wird man die Coburger in ihrer Gesamtheit und ihrer Natur nach nicht nur als eine Sippschaft humorloser Langeweiler, Schwerenöter und Lebensverleugner betrachten können. Dafür sind sie viel zu sehr Franken und als solche dem nahen katholischen Umland zu stark verbunden. Fast ist man geneigt, in dessen inspirierender Kraft so etwas wie ein lebenserhaltendes Korrektiv, wenn nicht sogar einen heimlichen Teil des eigenen Selbst zu sehen. Jedenfalls gibt es genügend Indizien, die für diesen anderen Zug im Wesen des Coburgers sprechen.
Nehmen wir als Beispiel den Familien- oder Gruppenausflug, wie er in den 50er und 60er Jahren noch zu den etablierten Sonntagsritualen gehörte. Zu einem wirklich freudvollen Erlebnis wurde ein solches Unternehmen erst dann, wenn es per Bahn oder Bus – denn ein eigenes Auto besaß noch lange nicht jeder – hinaus ging über die alte Grenzlinie der Konfessionen, hinüber ins Maintal, nach Schloss Banz, Vierzehnheiligen oder hinauf zum „Berg Zion“ aller Coburger, dem Staffelberg. Schöne Wälder, Wiesen und Hügel und ein gutes Bier, das gab es zuhause auch, aber diese weite Flusslandschaft, die „stromdurchglänzte Au“ aus Scheffels wunderbarem Lied, eingerahmt von den Höhen des Jura mit seinen idyllischen Tälern und Dörfern, das war doch etwas ganz anderes. Dazu der andere Klang der Glocken, die Menschen, die am Sonntagmorgen vorgaben, nur „schnell einmal zur Beicht“ zu gehen, deren Gesang aber dann auf Stunden hinaus aus übervollen Gotteshäusern drang und die am Ende doch wieder viel eher beim Bier in schattigen Gärten saßen, als man das sich hätte vorstellen können.
Was man an ihnen nicht ganz verstand, war diese eigenartige Angewohnheit, den Vorabend des Sonntags immer damit zu verbringen, über Stunden hinaus vor ihren Häusern die Straßen und Gehsteige zu fegen. Bei wirklich ordentlichen Leuten war es vor der Haustüre doch ganz von selbst und immer sauber! Doch solche Gedanken waren schnell verflogen, wenn sonntags nach dem Gottesdienst die Gemeinde sich zerstreute und der Geistliche auf die Straße trat, in priesterlicher Sonntagstracht mit breitkrempig schwarzem Hut, huldvoll grüßend auf jeden zuging mit einem lieben Wort, einem Scherz, einem freundlichen Händeschütteln und dabei auch die fremden Ausflügler am Rande des Kirchplatzes nicht übersah. So etwas kannte man nur aus Büchern und Filmen, das erinnerte an Don Camillo und Peppone, das war wie Italien, eine in vieler Beziehung fremde und unverständliche, aber doch liebenswerte Welt!
Es gibt keinen Ort, der die Möglichkeit des kulturellen Seitenwechsels, dazu noch in minimaler Fahrdistanz auf Bahn oder Straße, so intensiv erlebbar macht wie Bamberg. Der brausende Wasserfall am Inselrathaus, die Ausflugsdampfer vor der malerischen Kulisse des Fischerviertels, die vielen Brücken und Kirchtürme, schon in der kindlichen Erinnerung ist das alles eng verbunden mit dem Gefühl von Sommer, Ferien, Freizeit und entspannten Sonntagnachmittagen, die meist ihr Ende fanden im Rosengarten neben der Residenz bei einem Eis oder einem großen Stück Käsekuchen. Bamberg, das ist der Ort der kleinen Fluchten vieler Coburger, das nächste Ziel, wenn man schnell einmal hinaus muss und etwas anderes sehen will, ein Platz der Ruhe, der Gelassenheit, der Heilung für das geplagte Gemüt. Und wenn es auch keiner offen zugeben mag, an der Pforte des Kaiserdoms, mit Blick auf Hofhaltung und Residenz, vielleicht auch ein paar Stufen tiefer in der Schwemme des „Schlenkala“, da schlägt des Coburgers verborgenes katholisches Herz. Wer es nicht glaubt, der fahre nur hin, und er wird sie dort in Scharen treffen, zu jeder Tages- und Nachtzeit und bei allen Gelegenheiten, beim Einkaufen in den Straßen und Geschäften, bei den vielen sommerlichen Festen oder einfach nur schmausend und plaudernd in Gaststätten und Biergärten!