30. November 1919: Die Volksbefragung über den Anschluss an Thüringen, Teil I

Nach der Vorlage des thüringischen Gemeinschaftsvertrags im Mai 1919 und den erfolgreichen Verhandlungen mit Bayern, die am 28. Juli 1919 ihren vorläufigen Abschluss gefunden hatten, war es nun an der Coburger Bevölkerung, sich zwischen einem Anschluss an Thüringen oder Bayern zu entscheiden.

Seit dem 9. August beriet die Coburger Landesversammlung über die Form der Abstimmung. In einem ersten Vorschlag, den der Rechts- und Verfassungsausschuss der Landesversammlung ausgearbeitet hatte, war eine allgemeine, gleiche und geheime Abstimmung über die Frage „Bayern oder Thüringen“ für den 7. September 1919 vorgesehen. Vollkommend überraschend stellten die sozialdemokratischen Ausschussmitglieder Reinhold Artmann und Bernhard Lauer einen Minderheitsantrag gegen die Fragestellung „Bayern oder Thüringen“ auf den Stimmzetteln. Sie wollten stattdessen am 28. September 1919 zuerst nur über einen Anschluss an Bayern entscheiden lassen. Dabei sollte dieser abgelehnt sein, wenn weniger als die Hälfte der Stimmberechtigten und nicht wie heute üblich, weniger als die Hälfte der abgegebenen gültigen Stimmen, für einen Anschluss an Bayern gestimmt hätten. Dass die beiden Sozialdemokraten diesen Antrag einbrachten, ist damit zu begründen, dass sie wahrscheinlich auf Druck von thüringischen Parteifreunden in letzter Minute einen Anschluss Coburgs an Bayern verhindern wollten; denn die Bevölkerung tendierte ganz klar zu einem Anschluss an Bayern. Der tiefere Sinn des veränderten Abstimmungstermins lag darin, dass die Thüringenanhänger so mehr Zeit für ihre Propaganda gewonnen hätten, da der Wahltermin ja um drei Wochen nach hinten verlegt worden wäre.[1]

Der Minderheitsantrag führte am 11. August zu einer erregten Debatte in der Landesversammlung. Dort prallten zwei Gruppierungen aufeinander, die sich im Vorfeld nicht so klar herauskristallisiert hatten. Auf der einen Seite standen die Befürworter eines Anschlusses an Bayern. Dies waren die Abgeordneten Max Oskar Arnold, Dr. Hans Schack, Ernst Külbel (alle von der DDP) und Franz Klingler (SPD). Auf der anderen Seite standen Reinhold Artmann, Bernhard Lauer, Erhard Kirchner, Johann Stegner, Hermann Mämpel, Carl Wendt (alle von der SPD) und Gustav Hess (Bund der Landwirte), die einem Anschluss an Thüringen den Vorzug gaben. Der größte Streitpunkt war die Absicht, bei dem Votum für oder gegen Bayern das Verhalten aller Stimmberechtigten und nicht nur der abgegebenen, gültigen Stimmen zugrunde zu legen. Durch diese Konstruktion wäre das Wahlgeheimnis nicht gewahrt worden, da nur die Anhänger eines Anschlusses an Bayern zur Wahlurne hätten gehen müssen. Die Anhänger eines Anschlusses an Thüringen hätten durch ihr Fernbleiben von der Wahl ihr negatives Votum kundtun können.

Trotz dieser fragwürdigen Klausel fand sich am 11. August eine Mehrheit für das geänderte „Gesetz über eine im Freistaat Coburg vorzunehmende Volksabstimmung“. Diese Änderung trat aber nie in Kraft, da die Regierungsmitglieder Schack und Klingler ihre Unterschrift unter dieses Gesetz verweigerten. Damit war die von der Verfassung verlangte Unterzeichnung von mindestens zwei Regierungsmitgliedern nicht gegeben, denn die Regierung bestand nur aus insgesamt drei Personen. Um einen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation zu finden, wurde das Gesetz zurück an den Rechts- und Verfassungsausschuss delegiert. Schließlich einigte man sich am 30. Oktober auf einen neuen Gesetzentwurf. Die Volksbefragung sollte am 30. November 1919 stattfinden und auf dem Stimmzettel nach einem Zusammenschluss mit Thüringen gefragt werden. Die Frage konnte nur mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden. Des Weiteren sollte beim Votum die Mehrheit der Abstimmenden, nicht mehr die der Stimmberechtigten, entscheidend sein. Obwohl es bei der Abstimmung nur um eine Wahl für oder gegen einen Anschluss an Thüringen ging, war von vornherein für jedermann klar, dass ein negatives Votum, einen Anschluss an Bayern bedeuten würde.[2]

Nach der Klärung der Form der Volksbefragung konnte der Wahlkampf beginnen. Die Ausgangslage hätte dabei für beide Seiten nicht unterschiedlicher sein können. Während die bayerischen Propagandisten die echten Verhandlungen mit der bayerischen Regierung und die Zustimmung des bayerischen Landtags zu der in den Verhandlungen erzielten Übereinkunft vorweisen konnten, verfügten die Anhänger eines Anschlusses an Thüringen über nichts Vergleichbares. Nicht nur, dass es das Land Thüringen noch gar nicht gab und deshalb keine legitimierten Verhandlungspartner existierten, gab es auch nur eine Absichtserklärung des weimarischen Volksrates vom 6. August 1919, in der man zusicherte, die kulturellen Einrichtungen Coburgs erhalten zu wollen. Da aber kein Politiker für die Gemeinschaft der thüringischen Staaten sprechen konnte, war es fraglich, wie viel Gewicht diese Zusicherung hatte.[3]


[1] „Nicht durch Krieg, Kauf oder Erbschaft“. Ausstellung des Staatsarchivs Coburg anläßlich der 75. Wiederkehr der Vereinigung Coburgs mit Bayern am 1. Juli 1920. Coburg, den 1. Juli – 1. September 1995. Hrsg. von der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns. München 1995. S. 137-139; Hambrecht, Rainer: Die Vereinigung des Freistaates Coburg mit Bayern. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 58/59 (1998/1999). S. 371-390. S. 384; Verhandlungen der Landesversammlung des Staates Sachsen-Coburg 1919, S. 236f.

[2] „Nicht durch Krieg, Kauf oder Erbschaft“. S. 137ff., 170; Hambrecht, Rainer: Die Vereinigung des Freistaates Coburg mit Bayern. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 58/59 (1998/1999). S. 371-390. Hier S. 385.

[3] „Nicht durch Krieg, Kauf oder Erbschaft“. S. 153-155.

Teil II