Das geteilte Kinderland

Vom Schulfest (West) zum Ferienlager (Ost): mit der Klasse G2 der Pestalozzischule Coburg beim so genannten Gregoriusfest 1954 Foto: Rupert Appeltshauser

Ferienlager der »Jungen Pioniere« im Thüringer Wald bei Rauenstein Foto: Rupert Appeltshauser

Ob es sich um verschiedene Baukastensysteme handelte, um die Funktionsweise von Modelleisenbahnen, um Comicserien, Kaspars Auftritte im Puppentheater oder um das Kinderkino: In der geteilten Welt der 50er Jahre waren auch die Dinge, die das Kinderherz erfreuten, von Gegensätzen geprägt und den gewohnten Zuordnungsmuster des »Bei uns« und »Bei euch« unterworfen. In diesem bipolaren Kosmos zurechtzukommen, verlangte Kindern und Jugendlichen zwar einiges ab, konnte andererseits aber auch zur Erweiterung ihrer Erfahrungsmöglichkeiten beitragen.

Der erste Testfall in Sachen systemübergreifender Flexibilität und Offenheit ergab sich meist schon zu Beginn der Sommerferien sogleich nach der Ankunft in Thüringen. Zu Hause war am Vortag gerade das Schuljahr mit einem Umzug zu Ende gegangen, in dessen Verlauf die Schulkinder der Stadt nach altem Brauch aus tausenden Kehlen immer wieder einen »Herrn von Katzenkopf« und einen »Herrn von Ummerstadt« hatten hochleben lassen – oder besser gesagt einen »Herrn von Katzenkopf«, der des Reimes wegen »kein’ Schopf« und einen »Herrn von Ummerstadt«, der wohl aus eben diesem Grunde viel »Kummer hat«. Wegen des unterschiedlichen Ferienbeginns in Thüringen konnte es nun passieren, dass wir am folgenden Tage gleich wieder in einem Umzug mitmarschierten, diesmal in einer Schar von Kindern, von welchen die meisten zu ihren weißen Hemden und Blusen blaue Halstücher trugen. Selbst wenn wir das bei solchen Gelegenheiten gewohnte aristokratische »von« vor den mit Hochrufen bedachten Namen etwas vermissten, war das kein Hinderungsgrund, ebenso treu und pflichtbewusst mitzulaufen und in die Rufe einzustimmen.

Einmal bei den Pionieren dabei, kam man so schnell davon nicht wieder los. Jetzt stellte sich nämlich die Frage, was mit meinem Bruder und mir geschehen sollte, wenn am nächsten Tag unsere beiden gleichaltrigen Cousins ins Ferienlager gingen und unser Onkel, von Beruf Schullehrer, dort ebenfalls Dienst zu tun hatte. Nur um den ganzen Tag mit der Oma allein im Haus herumzusitzen, waren wir ja nicht gekommen. Konnte es aber zugelassen werden, dass zwei jugendliche Besucher aus dem Lager des Klassenfeindes, nachdem sie sich schon in die Reihen des Pionierumzugs hineingeschlichen hatten, auch noch am Lagerleben teilnahmen? Wider Erwarten obsiegte der Wille zur blockübergreifenden Toleranz und meinem Bruder und mir wurde gestattet, wenigstens besuchsweise einige Stunden des Tages in dieser kleinen, auf einer Bergkuppe hoch über dem Dorf gelegenen Zelt- und Barackenstadt zu verbringen. So richtig mitmachen, mit Übernachtung, Appellen und Zielschießen durften wir natürlich nicht, aber bei den friedlich-unterhaltsamen Abschnitten des sozialistischen Jugendalltags wie z. B. einem Puddingessen mit verbundenen Augen und anderen Späßen waren wir doch gelitten. Und deshalb betrachteten wir es natürlich als Ehrensache, auch einmal einen Nachmittag lang bei der Anlage eines Blumenrondells mithelfen zu können, dessen Schriftband in großen Lettern aus feinem, ordentlich zwischen den Beeten gelegtem weißen Kies den Sieg des Sozialismus verkündete.

Wie Schulfest und Jugendlager erwies sich auch der Umgang mit Spielsachen als eine stetige Erfahrung des Neuen. Es begann schon damit, dass ein erheblicher Teil des Spielzeugs in der DDR aus Holz gefertigt war und deshalb gegenüber vergleichbaren Artikeln aus westlicher Produktion viel primitiver wirkte. Der Gedanke, dass dahinter vielleicht ein eigenes pädagogisches Konzept stehen mochte, kam dem verwöhnten Westkind selbstverständlich nicht in den Sinn. Wir nahmen dieses grobschlächtige Spielgerät nur als einen Beweis für das allgemein schlechte technische Niveau im Lande. Natürlich gab es auch Spielwaren wie Blechspielautos oder Metallbaukästen, der Standard lag aber bei weitem nicht auf der Höhe der Zeit. Gegenüber solchen Wunderwerken wie den über Spiraldraht ferngelenkten Schuco-Autos mit ihrer stabilen, glänzend lackierten Blechkarosserie oder dem als Bausatz lieferbaren Mercedes-Silberpfeil lag der Osten einfach hoffnungslos im Hintertreffen. Die Frage jedoch, welche unserer Spielkameraden zu Hause solche begehrten Prachtexemplare aus den Auslagen der Spielzeugläden tatsächlich ihr Eigen nennen konnten, stellten wir uns lieber nicht. Wären wir ehrlich gewesen, hätten wir uns eben eingestehen müssen, dass wir auch nichts anderes taten, als uns sehnsuchtsvoll vor den Schaufenstern die Nase platt zu drücken.

Nur mit Metallbaukästen war es ein wenig anders. Hier bestand eher die Chance, in den Besitz eines dieser ersehnten Stücke Spieltechnik zu gelangen. Das hing damit zusammen, dass sich nach dem Erwerb einer relativ preiswerten Basisausstattung solche Baukastensysteme jederzeit durch Zukauf erweitern ließen. Mit gezielt lancierten Geburtstags- oder Weihnachtswünschen, freundlichem Verhalten oder kleinen Diensten gegenüber Tanten, Onkels und Großmüttern war es mit einiger Zielstrebigkeit auch bei schmalem Geldbeutel der Eltern möglich, zu einer Sammlung von Teilen zu kommen, die es irgendwann sogar erlaubte, so aufwändige Konstruktionen wie meterhohe Kräne zu bauen.

Die Qualitätsunterschiede zwischen den Bausätzen aus westlicher und aus volkseigener Fertigung waren schlichtweg frappierend. Bei Produkten wie der Marke Märklin hatte man mit bunt lackierten Einzelteilen zu tun, die so gut verarbeitet waren, dass auch bei stärkerer Belastung die Farbe nicht abplatzte, die Schrauben fest saßen und sich die Elemente nicht verbogen. Die in der DDR erhältlichen »Konstruktionsbaukästen« zeigten sich dagegen für ein wirklich konstruktives Bauen kaum geeignet. Die Bauteile, gefertigt aus billigstem, unlackiertem Aluminium, verbogen sich schon bei der geringsten Beanspruchung. Bei den für Kranmodelle unentbehrlichen Laufrädern z. B. passten die beiden Hälften so schlecht zusammen, dass sich das Zugseil darin sofort verklemmte. Die wenigen den Bausätzen beigegebenen Radreifen besaßen kein Profil und bestanden aus einem glatten, seltsam riechenden Hartgummi, der bald Risse zeigte und schnell brechen konnte. Zudem wurden die Räder nicht, wie es sich eigentlich gehörte, mit einer stabilen, in das Rad integrierten Schraubhalterung auf der Achse befestigt, sondern zwischen zwei Haltescheiben aus Aluminium eingeklemmt, die sich leicht verbogen und beim Fahren ein heftiges Quietschen und Eiern verursachten. Trotzdem kosteten diese Baukästen einen vergleichsweise hohen Preis. Da obendrein kein so gut durchdachtes Ergänzungssystem existierte, waren sie in den Spielzimmern von Gleichaltrigen in der DDR kaum zu finden. Wenn sich ein Kind überhaupt glücklich preisen konnte, so etwas zu besitzen, reichte die Sammlung an Bauteilen vielleicht gerade einmal für einen kleinen Traktor, ein Einfachauto oder ein Mini-Flugzeug, das mit seinen abenteuerlich durchlöcherten Tragflächen und den viel zu großen Laufrädern zudem ziemlich lächerlich wirkte.

Ein wenig besser sah es mit dem für sozialistische Kinderstuben vorgesehenen Gebäude- und Wohnungsbauprogramm aus. Das Sortiment an Baukästen war zwar auch hier beschränkt und kam an die Lego-Qualität lange nicht heran. Bescheideneren Ansprüchen kindlichen Aufbauwillens konnte es aber durchaus genügen. Ziemlich weit verbreitet waren Steinbausätze, deren Schöpfer das Lego-Prinzip in vereinfachter, aber nicht minder genialer Form den Verhältnissen ostdeutscher Mangelwirtschaft angepasst hatten. Anstatt aus glänzend buntem Kunststoff bestanden die Steinchen aus einer Art rötlich-grauem Presszement, wobei zwei Reihen kleiner Erhöhungen auf der oberen und entsprechende Vertiefungen auf der unteren Seite die Funktion der für die Lego-Steine charakteristischen Haltenoppen übernahmen. Das geringere Haftungsvermögen verlieh den aus solchen Elementen gebauten Mauerteilen zwar eine gewisse Instabilität, wegen der limitierten Zahl an Bausteinen kam man aber ohnehin nicht in Versuchung, aus falschem Ehrgeiz zu hoch hinauszubauen. Für ein kleines Einfamilienhaus oder einen Kleinstadtbahnhof reichte es auf jeden Fall.

Trotz des einfacheren Materials und der begrenzten Möglichkeiten beeindruckte an diesem System dennoch, dass es Kindern eine quasi-authentische Erfahrung des Bauens vermittelte. Lego-Gebäude mit ihren glatten, abwaschbaren Wandflächen und ihren grellen Farben erweckten immer den Eindruck einer Kunstwelt. Die mit dem DDR-Imitat gebauten Häuser gewannen allein wegen des backsteinähnlichen Baumaterials, der kleinen Fugen zwischen den Mauersteinen und der Fenster- und Türeinsätze aus echtem Holz ein weitaus realitätsnäheres Aussehen. Dazu war von den kleinen Meistern des sozialistischen Aufbaus auch mehr Geschick gefordert. Mit Legosteinen, schnell zusammengesteckt und auf die Grundplatte gedrückt, bekam eigentlich jeder etwas hin. Wer es dagegen im Umgang mit einem Ostbaukasten nicht verstand, die Steine in den Winkeln und Ecken korrekt auf Fuge zu legen oder wer die Türausschnitte und Fensterabstände nicht richtig setzte, konnte mit der Planerfüllung auf der Baustelle sehr schnell in Rückstand geraten.

Besonders die Dachkonstruktion zeichnete sich bei diesem System durch ihre große Realitätsnähe aus. Inzwischen bietet zwar auch Lego eine Auswahl von Teilen und Platten, mit welchen sich einigermaßen dachähnliche Hausbekrönungen schaffen lassen. Zuvor gab es, um einen Lego-Bau zu überdachen, aber keine andere Möglichkeit, als von zwei oder vier Seiten her stufenförmig nach oben zu bauen, bis sich die Steine in der Mitte trafen. Irgendwie sah das dann immer so aus, als sei die Haustreppe auf das Dach geraten. Die DDR-Kästen dagegen boten ein Sortiment kleiner Kanthölzer verschiedener Länge, aus welchen sich ein echtes Dachgebälk herstellen ließ, auf das genau wie bei einer richtigen Dachkonstruktion die Ziegel aufgelegt wurden.

Konstruktionsgeschick, Fingerspitzengefühl, vielleicht auch die Fähigkeit zu improvisieren und Rückschläge zu meistern – das waren die Tugenden, die hier gefördert wurden, Qualitäten also, die ganz dem Improvisationsgeist der Aufbaujahre und den Anforderungen der Mangelwirtschaft zu entsprechen schienen. Wie mit dem staatlich verordneten Übergang zur Plattenbauweise diese Zielorientierung langsam verloren ging, lässt sich am Beispiel eines Spielprodukts verfolgen, das unter der Bezeichnung »Der kleine Großblock-Baumeister« Verbreitung fand. Dieser Baukastentyp war deutlich darauf angelegt, auch die Köpfe der Baumeister in den Kinderzimmern für die neue Billigbauweise zu gewinnen. Wie bei den Vorbildern im Großen war Phantasie hier nicht mehr gefragt. Es gab nur noch weiße, quadratische Plastikplatten, teils in Form fensterloser Wandteile, teils mit eingestanzten Tür- oder Fensteröffnungen. Zusammengesteckt wurden die Teile mit grünen Zwischenstreifen aus Plastik, und das Bauwerk fand seinen Abschluss nach oben mit einer genormten Platte, ebenfalls aus Plastik. Außer der Zahl der Stockwerke, vielleicht noch der Wahl eines winkelförmigen Grundrisses, gab es keinerlei Variationsmöglichkeiten. Abwechslung war bei der systembedingten Einförmigkeit dieser Spielplattenbauten einfach nicht mehr gefragt.

Das Gebiet, auf dem die Spielzeughersteller der DDR wirklich die Nase vorne hatten, war das der Modelleisenbahnen. Mit westlichen Renommiermarken konnten die bekannten und beliebten Produkte der Firma Piko selbstverständlich nicht konkurrieren. Was sie aber auszeichnete, war ihr Preis, der ihnen einen Verbreitungsgrad in Kinderzimmern garantierte, wie man ihn im Westen nicht kannte. Nicht ohne Neidgefühle mussten wir mit ansehen, wie bei den Cousins und deren Freunden die Modellbahnanlagen wuchsen und wuchsen. Und darauf drehte dann nicht etwa nur ein einziges armseliges Züglein seine Runden. Mit verschiedenen Schaltkreisen, komplizierten Signal- und Weichensystemen, Mehrfachfahrten und Begegnungsverkehr ging es dort immer recht professionell zu, ganz zu schweigen von den technisch ausgereiften Lokomotiven und detailgetreuen Wagen, die Piko schon in den 50er Jahren produzierte. Anlagen vergleichbaren Ausmaßes waren im Kreis meiner sämtlichen Freunde völlig unbekannt. Wenn da überhaupt eine Spieleisenbahn ihren Weg auf den Gabentisch fand, dann meist nur in sehr bescheidener Ausführung. So umfasste z. B. die bei uns zu Hause auf dem Ausziehtisch im Wohnzimmer installierte Bahntechnik gerade einmal einen einfachen Schienenkreis mit zwei Handweichen, drei oder vier Blechwagen, gezogen von einer urtümlichen kleinen Lok, deren einfaches Plastikgehäuse das erste ernste Zugunglück selten überlebte und deren Motor so unterentwickelt war, dass er auch mit Batterie betrieben werden konnte. Im Vergleich dazu befand sich der Sozialismus eindeutig auf der Siegesschiene!

Viel Überraschendes, Neues und Interessantes bot auch alles, was mit Unterhaltung zu tun hatte, wie z. B. Bücher, Lesehefte, Filme oder sonstige Veranstaltungen, die das Kinderherz erfreuten. Hier hatten z. B. die Digedags ihren festen Platz. In jedem Sommer fieberten wir mit Spannung dem Augenblick entgegen, in dem wir uns wieder auf den Stapel von Heften des abgelaufenen Jahres stürzen konnten, den unsere Cousins aufgehoben und für uns bereit gelegt hatten. Gegenüber den kleinen Spießern aus Entenhausen mit ihren banalen Alltagssorgen und ihrem fortwährenden Gerede von Geld erschien uns das Abenteuertrio aus den Mosaik-Heftchen als eine wirklich fesselnde Alternative. Die Drei wagten sich wenigstens hinaus in die Welt. Erst kämpften sie gegen die Piraten in der Südsee, dann verunsicherten sie das alte Rom und schließlich hoben sie auch noch ab in den Weltraum!

Zu den unvergessenen Leseerlebnissen bei unseren DDR-Besuchen zählte auch Erwin Strittmatters Erfolgsbuch Tinko. Im Vergleich zu der Jugendliteratur, die wir von Haus aus kannten, hatte diese bewegende Erzählung vom Schicksal eines kleinen Jungen auf dem Lande, inmitten einer unbegreiflichen Erwachsenenwelt, geprägt von den Nachwehen des Krieges und zerrissen von Weltanschauungs- und Generationskonflikten, eine ganz andere Qualität. Die Geschichten, mit welchen wir uns aufgrund elterlicher Leseempfehlungen und eines für jugendliche Leser bebilderten Sammelbandes gut auskannten, waren die deutschen Heldensagen, also der Zug der Burgunder an König Etzels Hof, die Brautwerbung König Gunthers, Siegfrieds Tod und die Rache der Kriemhild. Die Auswahl an Lesestoff, die uns die Schulbibliothek bot, war insgesamt gesehen auch nicht so viel besser. »Emil und die Detektive« oder »Pünktchen und Anton« gehörten zwar dort mit je einem Exemplar zum Bestand, waren aber wegen der großen Nachfrage fast immer ausgeliehen. Oft blieb dann nur das übrig, was den prüfenden Blicken der Reeducation-Offiziere in dem auf einem entlegenen Dachboden untergebrachten Bibliotheksraum der Schule entgangen war: Heldenliteratur der Kaiserzeit wie z. B. die Abenteuer wilhelminischer Flottenoffiziere beim Landgang in den Tropen, Lettow-Vorbecks heldenhafter Kampf um die Verteidigung von Deutsch-Südost oder die Kaperfahrten von Graf Luckners Seeteufel. Vor einem solchen Lesehintergrund kann man sich gut vorstellen, wie befreiend die Geschichte von Tinko auf uns wirkte. Die hatte wenigstens auf nachvollziehbare und glaubwürdige Weise etwas mit Jugendlichen und ihren Problemen zu tun, in einer Welt, die nicht nur von Heldenfiguren und Sagenwesen bevölkert war, sondern wirklich existierte.

Auch Kaspar im Puppentheater kam in Ost und West in völlig unterschiedlichen Rollen daher. Auf dem Jahrmarkt bei uns zuhause konnte man ihn meist in einem ziemlich derb-fränkischen Milieu erleben, mit klaren Erkennungssignalen für Gut und Böse, gesetzt durch die Physiognomien der Figuren oder die Stimm- und Tonlage des Sprechers. Kaspars lobenswerte Anstrengungen, sich mit Hilfe der Polizei und der braven Gretel des Bösen zu erwehren, trafen zwar auf manches Missgeschick, der glückliche Ausgang stand jedoch auf keinen Fall im Zweifel: Diejenigen, die es verdienten, ob Räuber oder Hexe, bekamen am Schluss ordentlich die Hucke voll. Daneben erinnere ich mich noch an Stücke von eher bildend-unterhaltsamer Art wie z. B. »Kaspars Weltreise« mit exotischen Tanzeinlagen der Eingeborenen beim Besuch Kaspars in einem afrikanischen Kraal oder mit Ausritten auf Elefanten und Kamelen.

Die Aufführung des Puppenspiels »Die Zwietrachthexe«, der wir unter roten Bannern im volkseigenen Kulturhaus einmal beiwohnten, fiel dagegen recht enttäuschend aus. Da gab es z. B. gar keine richtigen Bösewichte, auf deren Bestrafung man sich hätte freuen können. Im Grunde waren alle Menschen gut, nur diese eine Hexe hatte sich in den Kopf gesetzt, Zwietracht zu stiften, indem sie die Leute mit ihren Einflüsterungen dazu brachte, den Versuchungen der Selbstsucht und des Geldes nachzugeben. Kaspar hatte dann alle Hände voll zu tun schlichtend einzugreifen, um Neid, Hass und Streit aus der Welt zu schaffen und Frieden zu stiften. Dabei wandte er sich mit fortwährenden Appellen an die Gutmenschen im Publikum, ihm dabei behilflich zu sein. Ob die im Parkett versammelten Kindergarten- und Grundschulbrigaden den ideologischen Kern der Botschaft ganz verstanden, sei dahingestellt. Heute wissen wir natürlich, um was es hier ging: Aufrichtige Sozialisten werden von eigenwilligen Quertreibern vom guten Wege abgebracht, Kaspar erfüllt seine staatsbürgerliche Pflicht, indem er die wankelmütigen und unsicheren Elemente zur Einsicht und Reue bringt und die gestörte Ordnung ist wieder herstellt.

Kindertheater als Erziehungstheater, um das spannend zu finden, war der pädagogische Zeigefinger doch etwas zu stark zu spüren. Gut, dass es da noch die Kindervorstellungen im Dorfkino gab. In einer der Gastwirtschaften existierte sogar noch ein eigener Kinosaal, in dem an einem oder zwei Abenden in der Woche ein Film für die Erwachsenen lief. An jedem Sonntag punkt drei Uhr nachmittags stand dann ein Kinder- oder Jugendfilm auf dem Programm. Auf diesen Tag und diese Stunde freuten wir uns schon die ganze Woche. Mit nur einer Mark und fünfzig Pfennigen war man dabei, und der Saal war stets bis auf den letzten Platz besetzt.

Allein die Tatsache, nicht nur vor einer improvisierten Leinwand, sondern ganz wie die Großen in einem echten Kino sitzen zu können, machte schon die Hälfte des Vergnügens aus. Bei vielen der gezeigten Filme musste man allerdings damit rechnen, nicht immer ganz durchsteigen zu können. Oft gaben die Handlungsorte Rätsel auf, aber auch die Handlung war aus Kindersicht nicht immer nachvollziehbar. Was sollte man z. B. mit Szenen anfangen, in welchen einige feine Herren in Frack und Zylinder an einem gottverlassenem Ort inmitten des afrikanischen Urwaldes in sehr unfreundlicher Art auf eine Gruppe von Eingeborenen einredeten, die mit nichts anderem als einem Strohmattenschurz bekleidet waren? Weshalb unternahm jemand die Anstrengung, in einer solchen Aufmachung bei einer solchen Hitze in den Urwald zu reisen? Wie man die DDR inzwischen kannte, musste es sich wohl um irgendwelche Kapitalisten gehandelt haben, die sich in diesem für sie bezeichnenden Aufzug und mit Sicherheit in wenig menschenfreundlicher Absicht an diesen fernen Ort begeben hatten. Gerne hätte man über die genauen Umstände und Motive etwas mehr erfahren, aber offensichtlich setzten die Filmemacher voraus, dass die Zuschauer wussten, um was es ging. Häufig erschienen auch Uniformierte auf der Leinwand, entweder auf der Flucht vor Verfolgern, oder damit beschäftigt, Sprengstoff durch feindliche Linien zu schmuggeln und Anschläge vorzubereiten. Keiner konnte so richtig verstehen, wer da auf welcher Seite kämpfte, aber so lange die Spannung gewahrt blieb, spielte das keine so entscheidende Rolle. Wahrscheinlich handelte es sich bei diesen unverstandenen, aber gut in Erinnerung gebliebenen Streifen um Leinwanddramen wie die »Fünf Patronenhülsen« mit Armin Mueller-Stahl und Manfred Krug, in dessen Verlauf sich fünf Mitglieder der Internationalen Brigaden während des spanischen Bürgerkrieges aus Feindesland zu ihren eigenen Truppenteilen durchschlagen mussten.

Zu den unvergessenen Höhepunkten der sonntäglichen Kinonachmittage gehörten auf jeden Fall aber die großartigen Märchenfilme wie »Das kalte Herz« oder Wolfgang Staudtes Meisterwerk »Der Kleine Muck«. Ein so gebannt und atemlos staunendes Kinderpublikum wie bei den berühmten Laufszenen mit den Zauberpantoffeln kann man sich heute, in Zeiten einer von Spezialeffekten verwöhnten Jugend, kaum noch vorstellen. Weil wir davon so schwärmten, lud uns unser Vater zu einer Vorstellung ein, als dieser Film Jahre später auch in einem Kino unserer Heimatstadt auf die Leinwand kommen sollte. Ich habe bis heute nicht vergessen, welche Enttäuschung es uns bereitete, als die Aufführung wegen zu geringer Nachfrage abgesagt werden musste. Für Kinderfilme aus der DDR gab es in der Kleinstadt, in der wir wohnten, offenbar noch kein Publikum. Wir empfanden es jedoch als ein Privileg, diesen bewundernswerten Film schon im Lande seines Erscheinens gesehen zu haben. So hatte die Erfahrung des geteilten Kinderlandes auch manch Gutes, allen Widersprüchlichkeiten und Verunsicherungen zum Trotz!