Coburger Journalismus in der Wendezeit
Die Coburger Redakteure Rainer Lutz und Christine Lehmann erzählen, wie sie die Öffnung der Grenze 1989 beruflich erlebt haben:
Rainer Lutz: Bei der Redaktionskonferenz am 10. November 1989, die in der Tageblattredaktion stattfand, wurde ich als angehender Volontär ausgewählt „von drüben“ zu berichten, weil ich der Einzige mit gültigen Papieren für den „kleinen Grenzverkehr“ war. So wurde der Fall der Grenze für mich zum Sprungbrett in den Beruf des Journalisten – und ins kalte Wasser. Keine halbe Stunde nach der Konferenz rollte ich der Trabikolonne entgegen und an den Grenzübergang. Auftrag: „Sie füllen heute Abend eine Seite mit Eindrücken aus Eisfeld und Sonneberg.“
Christiane Lehmann: Es gab in diesen ersten Wochen und Monaten auch bei uns in der Redaktion kaum ein anderes Thema: Begrüßungsgeld, Öffnung der vielen kleinen Grenzübergänge, runde Tische, Massenabverkäufe in den Supermärkten, Autoboom und Wohnungssuche. Bald bekam ich auch ein Visum und konnte nach Sonneberg. Es war uns allen bewusst, dass hier große Geschichte gemacht wird. Im Frühling 1990 hat das Tageblatt sich entschlossen, eine neue Zeitung für Südthüringen zu gründen. Und ich übernahm die Redaktionsleitung in Sonneberg am 21. Mai. Der Weg zur Arbeit beinhaltete täglich eine Passkontrolle an der Gebrannten Brücke.
Lutz: Wie oft hatten wir hinüber geblickt zu den Höhen des Thüringer Waldes, wären gern einfach mal so dahin gefahren. Jetzt durfte ich es, musste sogar, Tag für Tag. Und ich beschäftigte mich hautnah mit diesem Prozess eines Zusammenwachsens von zwei Teilen eines Landes, die inzwischen so unglaublich unterschiedlich geworden waren.
Lehmann: Mich berührte die Geschichte auch ganz persönlich, denn meine Familie war in den späten 50-er Jahren über die Grenze geflüchtet, um in Freiheit leben zu können. Die Ortschaften, Berge und Täler waren mir aus Kindheitserzählungen gut bekannt. Redewendungen der Sonneberger kannte ich von meiner Uroma. Für die Menschen waren wir (zunächst) die Hoffnungsträger aus dem Westen. Uns wollten sie ihre Geschichten erzählen, ihr Leid und ihren Frust über den Überwachungsstaat loswerden.
Lutz: Geschichten über Geschichten. Wir kamen aus dem Staunen kaum heraus. Wir schrieben alles auf, glaubten manches, anderes nicht – und wunderten uns, dass es scheinbar doch stimmte, wenn es wenig später im Westfernsehen für Aufsehen sorgte.
Lehmann: Viele Geschichten waren unglaublich – schön, aber auch schrecklich. Für uns war es spannend und emotional aufwühlend, diese Zeit zu dokumentieren. Manchmal war es unmöglich, den Wahrheitsgehalt der Geschichten zu überprüfen. In unsere Redaktion kamen verzweifelte Menschen, die Jahrzehnte lang verfolgt wurden, die im Gefängnis saßen oder denen man die Kinder abgenommen hatte. Aber es kamen auch eine ganze Reihe von „Wendehälsen“, denen wir nicht auf den Leim gehen wollten.
Lutz: Wir hatten Computer, aber von online war nur zu träumen. Das Fax war nur versprochen und das Telefon ging mal und mal eben nicht. Der Arbeitstag begann um 8 Uhr und endete selten vor 20 Uhr. Und nicht geschimpft war das größte Lob, das man erwarten durfte. Spaß gemacht hat es trotzdem, denn jeder spürte, dass er hier mitten in einer Zeit von weltgeschichtlicher Bedeutung journalistisch arbeiten durfte. Das war schon was.