Gekochte Bonbons und süße Versuchungen

Ein Beitrag von Werner Weiss

In blitzblanken Kupferkesseln wurde über einer koksbefeuerten Esse die Bonbonmasse „gekocht“ und entsprechend der Geschmacksrichtung mit Essenzen angereichert. War die ganz spezifische Temperatur erreicht, so wurde die flüssige Masse auf einem großen Marmotisch ausgegossen. Mit Lederhandschuhen wurde der noch heiße „Bonbonbrei“ von den Tischrändern nach innen vorsichtig zu einem großen Klumpen zusammengeschlagen und durchgeknetet, bis sich dicke Streifen ausziehen ließen. Mit der „Bonbonschere“ abgeschnitten, wurden diese zwischen die Walzen der Prägemaschine geführt und durchgedreht, bis sie auf der anderen Seite (in die entgültige Form gepresst) über eine Rutsche zum Erkalten und Sieben auf dem nächsten Produktionstisch landeten. Schon von Kindesbeinen an half ich – nicht ganz uneigennützig – gern beim Durchdrehen der Bonbonstreifen an der handbetriebenen Prägemaschine. Dabei schmolz der ein oder andere Glüweinbonbon in meinem Mund. Das Prunkstück der Bonbonfabrik, nämlich die vollautomatische Bonboneinwickelmaschine – ein technisch ausgeklügeltes Wunderwerk – konnte allerdings nur eine flinke Fachkraft bedienen.

Weißst du wie ich heiß? Ich bin der Sohn von Bonbon-Weiss. Damals wurde mir angedichtet, mit diesem kessen Spruch auf den Lippen als kleiner Dreikäsehoch angeblich den Leuten auf der Straße begegnet zu sein. Als Bonbon-Spross war die Versuchung natürlich groß, beim Gang durch die Fabrik oder durch den Laden so manche Süßigkeit in der Hosentasche verschwinden zu lassen. Dies veranlasste meinen Vater, zunächst noch recht wohlwollend, mich mit einem Magnet zu vergleichen. Als er mich wieder einmal erwischte, als ich die „süße Erwartungshaltung“ meiner Schuldfreunde, die schon vor dem Laden warteten, befriedigen wollte, hatte ich wohl die Nachsicht meines Vaters überstrapaziert: „Das mit leeren Taschen in den Laden Hinein, mit vollen Heraus, hat jetzt ein Ende“, echauffierte er sich und hatte auch gleich ein einprägsames, abschreckendes Exempel statuiert. Er bugsierte mich in den fensterlosen stockfinsternen Kastenaufbau unseres Tempo-Dreiradwagens, verriegelte die Tür, setzte sich ans Steuer und brauste davon.

Nach kurzer, für mich einer Geisterbahn gleichenden Fahrt, ließ mich mein Vater frei. Diese Freiheit währte aber nicht lange, denn ich fand mich in der Rosengasse wieder… direkt vor der Polizeiwache! Für eine 20-minütige Bedenkzeit ließ er mich von dem (ihm gut bekannten) Polizisten in eine spartanisch ausgestattete Zelle sperren.

Nach dieser Lektion war die Versorgung meiner Freunde mit Süßigkeiten für längere Zeit nicht mehr gesichert. Ich beschränkte mich fortan auf meinen Eigenbedarf vorzugsweise in Form von Nougat und Marzipan-Rohmasse, die aus Schwartau in großen Kisten angeliefert wurde und im sogenannten Zuckerlager-Depot – obwohl gut getarnt – vor meinem Zugriff auch nicht ganz sicher war.

Die Firma wurde nach über hundertjähriger Existenz im Jahr 1975 von mir aufgelöst und die Fabrik- und Lagerräume in Wohnungen umgewandelt. Verewigt ist die „Bonbonfabrik Rudolph Weiss“ durch die Wiederaufbringung des alten Schriftzuges an dem 2011 restaurierten ehemaligen Fabrikgebäude am Albertsplatz. Geblieben ist auch bis zum heutigen Tag meine Vorliebe für Marzipan, Nougat oder eine gute Tafel Schokolade, während die Lust auf Bonbons und andere Süßigkeiten mir wohl damals in der Gefängniszelle ein für allemal vergangen ist.