Auf vielen Umwegen nach Coburg – Teil V

Eines Tages erfuhr meine Mutter, dass unsere Verwandten, die während dieser Entlausungsaktion von uns getrennt worden waren, in Salzgitter am Harz gelandet waren. Im Rahmen der Familienzusammenführung wurden wir dann ebenfalls vom Roten Kreuz per Eisenbahn dorthin gebracht. Diesmal fuhren wir in einem normalen Personenzug. Die Wiedersehensfreude wurde allerdings dadurch etwas getrübt, dass wir nun alle zusammen, das waren immerhin sechs Personen, in einem Wohnblock in zwei Zimmern leben musste. Meine gelähmte Oma wurde zu dieser Zeit in einem Krankenhaus betreut. Und dann erfuhr meine Mutter, dass unser Vater in einem amerikanischen Lazarett in Sonthofen im Allgäu lag. Er war in Russland verwundet worden und nach Sonthofen gekommen. Dort wurde das Lazarett dann von den Amerikanern eingenommen, sodass sich unser Vater in amerikanischer Kriegsgefangenschaft befand. Zum Glück! Unser Aufenthalt in Salzgitter endete also damit, dass wir wiederum mit einem Personenzug nach Sonthofen gebracht wurden. Und dort auf dem Bahnhof stand ein fremder Mann, der mein Vater sein sollte. Das war im Herbst 1946. Ich glaube nicht, dass ich mich sonderlich gefreut habe, denn ich war ja bisher auch ohne einen Vater ausgekommen. Auf jeden Fall ging es uns ab diesem Zeitpunkt erheblich besser. Mein Vater war inzwischen von seinen Verwundungen soweit genesen, dass er in der Lazarettküche als Koch beschäftigt und daher auch nicht in ein Gefangenenlager gebracht worden war. In der Küche waren auch zwei Ostpreußen, ebenfalls Kriegsgefangene der Amerikaner, als Hilfspersonal eingesetzt. Die beiden haben sich rührend um uns gekümmert und immer wieder etwas Essbares aus der Küche für uns organisiert. Über den Namen und den Dialekt des Einen musste ich damals schon herzlich lachen und der ist mir daher nie mehr aus dem Kopf gegangen: Hartmut Knoblspiess.

Die Amerikaner hatten uns erlaubt, in einem Krankenzimmer in der Kaserne zu wohnen, bis wir eine andere Unterkunft gefunden hatten. Das wiederum geschah mit Hilfe des Roten Kreuzes kurze Zeit später. Uns wurde  wieder nur ein Zimmer, auf einem Bauernhof in Imberg, einem Weiler bei Sonthofen, zugewiesen. Der Bauer war im Krieg gefallen und der kleine Hof wurde von der Frau und einer ledigen Tochter bewirtschaftet. Der Weiler bestand aus einer Handvoll Bauernhöfen und einer kleinen Käserei. Dort überstanden wir den Winter. Es war äußerst mühsam, den steilen Weg, der nie geräumt war, von Imberg in die Kaserne nach Sonthofen und zurück zu gehen. In Imberg machte ich auch meine ersten Erfahrungen mit der Schule. Wir waren allerdings nur zu sechst und ob die Lehrerin wirklich Lehrerin war, weiß ich bis heute nicht. Auf jeden Fall musste ich, ich war der Jüngste in der „Klasse“, zuerst „Spazierstöckchen“ malen, die dann hintereinander ein „n“ oder ein „m“ ergaben oder verkehrt herum an einen halben Kreis gesetzt zu einem „a“ wurden. Spaß hat mir das jedenfalls keinen bereitet.