Quelle zum Antisemitismus aus dem Jahr 1929

Coburger Volkszeitung vom 25. Januar 1929: „Koburg – Brutstätte einer traurigen Erscheinung“[1]

„Den Antisemitismus, gesellschaftlich verborgen oder politisch offenkundig, finden wir zwar im ganzen Deutschen Reich verbreitet; aber einige Gebiete und Städte können darüber hinaus den traurigen Ruhm in Anspruch nehmen, Hochburgen und Brutstätten dieser traurigen Erscheinung zu sein. Das gilt auch von dem idyllischen Frankenstädtchen Koburg, einst unter Herzog Ernst II. ein Ausgangszentrum deutschen Einheits- und Freiheitsstrebens. Bei den letzten Reichtstagswahlen vereinigten in Koburg Deutschnationale, Nationalsozialisten und Deutschvölkische, also die Parteien, die versteckt oder offen dem Judenhaß huldigen, rund zwei Drittel aller abgegebenen Stimmen auf ihre Kandidaten, was allein als äußerer Maßstab für die Stärke der völkischen Bewegung in dieser Stadt gelten kann. Es wäre aber verfehlt, sich mit dieser Feststellung zu bescheiden. Viel ernster und viel kennzeichnender sind noch die verschiedenen anderen Auswirkungen der völkischen Agitation in Wirtschaft und Gesellschaft. In Koburg gibt es heute zwei Detaillistenvereine, einen jüdischen und einen nichtjüdischen. Die Inflation hatte die alte Detaillistenvereinigung zerstört. Als sie nach der Stabilisierung wieder aufgebaut wurde, zeigten sich die ersten Früchte der judenfeindlichen Agitation: den jüdischen Einzelhändlern wurde die Aufnahme in den neuen Verein verwehrt. Wochenlang kämpften sie um ihre Anerkennung, ihr Recht umsonst. Schließlich mußten sie, um die Vorteile der Organisation überhaupt zu genießen, einen eigenen Verein bilden. Doch das ist nicht alles. Langsam aber sicher wirkt sich die geschäftliche Boykottpropaganda der Völkischen aus. Jüdische Ärzte, Anwälte, Kaufleute berichten uns, daß ihnen zwar ihre alten Kunden treu bleiben, deren Söhne aber, fast die ganze jüngere Generation, lieber zu Nichtjuden gehe. Die Ladenschwelle des Juden ist ihr verpönt, und es bedarf bei der jüdischen Geschäftswelt außergewöhnlicher Anstrengungen, um im Konkurrenzkampf nicht zu erliegen. Darüber hinaus wurden Juden aus den verschiedensten Vereinen, Kriegervereinen und eine Zeitlang namentlich aus Sportvereinen, hinausgeekelt, oder es wurde von den Vereinsleitungen ihre Aufnahme abgelehnt, oder ihr zum mindesten Hindernisse in den Weg gelegt. Eine andere beliebte Methode, die namentlich von Kriegervereinen geübt wurde, besteht darin, die jüdischen Vereinsmitglieder beim Einkassieren der Beiträge geflissentlich zu übergehen, um so die Mitgliedschaft allmählich ,einschlafen‘ oder formell wegen Nichtbezahlung der Beiträge erlöschen zu lassen. Auch die jüdischen Schüler der Mittelschulen Koburgs hatten unter völkischen Hänseleien und zuweilen auch Rüpeleien eines Kreises ihrer nichtjüdischen Kameraden zu leiden, doch ist dann in den letzten Jahren eine merkliche Besserung erfolgt. Ebenso unerfreulich sieht es in der Umgebung Coburgs aus. In Neustadt hat fast die Hälfte der stimmberechtigten Bevölkerung bei den letzten Wahlen nationalsozialistisch gewählt. Auch Grub a. Forst präsentiert sich als schlimmes Hakenkreuzlernest. Ja, sogar das flache Land ist in weitem und bedrohlichem Maße der völkischen Wühlarbeit verfallen. Fragt man nun nach den Gründen dieses erschreckenden Anschwellens der völkischen Bewegung im Coburger Gebiet, so ist zunächst festzustellen, daß die Nationalsozialisten, aber leider auch der Stahlhelm, ausgesprochen judenfeindlich und mit unermüdlichem Eifer tätig sind. Sonntag für Sonntag ziehen sie hinaus mit ihren Sturmtrupps, mit Musikkapellen auf die Dörfer und in die kleinen Marktflecken, und kämpfen mit aufpeitschenden Reden und mit Musik um die Seelen der Bevölkerung.

Die Versammlungspropaganda wird unterstützt durch ein in Neustadt b. Koburg erscheinendes, übles völkisches Wochenblatt, den ‚Weckruf‘, das, gedeckt durch die parlamentarische Immunität eines verantwortlichen Redakteurs, früher des nationalsozialistischen Reichstagsabgeordneten Dietrich, jetzt des Landtagsabgeordneten Schemm aus Bayreuth, Woche für Woche die schwersten Verleumdungen gegen die Juden verbreitet. Erleichtert wird diese hemmungslose Agitation ferner dadurch, daß die nichtantisemitischen Parteien und Verbände dem Treiben der Nationalsozialisten keine nennenswerte Abwehr gegenüberstellen. Teils haben sie nicht mehr die Kraft dazu, teils glauben sie, die nationalsozialistische Bewegung nicht ernst nehmen zu müssen. Die letzten Wochen allerdings belehrten sie eines besseren, aber jetzt weiß man wieder nicht recht, wie man mit dem starkgewordenen Gegner fertig werden soll. Auf dem flachen Lande erweist sich der Landbund, namentlich der Junglandbund, als nicht ungefährlicher Helfershelfer der völkischen Parteien. Auch die wirtschaftliche Struktur des ganzen Gebiets, dessen Bewohner sich vielfach von Heimindustrie nähren, trägt zum Erfolg der antisemitischen Agitation bei. In der zahlreichen Heimarbeiterschaft haben wir nämlich eine proletarische Schicht vor uns, die gewerkschaftlich wenig oder gar nicht diszipliniert, seit Jahrzehnten den Nährboden abgegeben hat. In der Stadt Koburg endlich ist nicht zu verkennen, daß die schroffe, ja geradezu aggressiv judenfeindliche Haltung des Herzogs und besonders der Herzogin das Emporblühen der Hakenkreuzlerbewegung lange Zeit stark gefördert hat. Waren und sind doch in einer kleinen Residenzstadt die Fäden zwischen Hof und Bürgerschaft naturgemäß viel enger geknüpft als etwa in großstädtischen Residenzen. Deshalb ist es auch verständlich, daß die politische Haltung des Hofes von vielen Bürgern, namentlich solchen, die durch besondere materielle oder immaterielle Interessen dem ehemaligen Hof verbunden sind, sogar heute noch als zur Nacheiferung verpflichtend angesehen wird. All dies, die starke Agitation, die mangelnde Abwehr, die Hilfsstellung des Landbundes, die Eigenart der wirtschaftlichen Struktur des Landes und der Einfluß des Herzogshauses, hat mit der Schwäche des früher freisinnigen Bürgertums zusammengewirkt, nun in Koburg heute eine antisemitische Bewegung von solchem Ausmaß und so unerfreulichen Auswirkungen entstehen zu lassen, daß sie ernste Beachtung nicht nur bei der Gesamtheit der deutschen Juden, sondern darüber hinaus bei all denen fordert, die in der nationalsozialistischen Propaganda eine schwere Gefahr für die seelische Gesundheit des deutschen Volkes und eine – Kulturschande sehen! Koburg ist mit der stärkste, aber nicht der einzige Stützpunkt der Judenfeinde in Oberfranken. Auch Bayreuth und Hof sind bereits Hochburgen der Hitlerianer, und das schöne deutsche Land zwischen Saale und Obermain droht heute ganz ein Opfer phrasenhaft verbohrter, verantwortungsloser Judenhetze zu werden, wenn nicht noch rechtzeitig sich alle wahrhaft deutsch und christlich Gesinnten zusammenschließen zur Abwehr einer Bewegung, die der Lehre des Nazareners, den Fundamentalsätzen menschlicher Sittlichkeit eben so sehr ins Gesicht schlägt wie den besten Traditionen deutscher Geistigkeit.“


[1] Artikel zitiert nach: Fromm, Hubert: Die Coburger Juden. Geschichte und Schicksal. Coburg 2001. S. 42 ff.