Wie ich das Kriegsende 1945 in der Raststraße und in Creidlitz erlebte

Ein Bericht von Günther Wagner

Bild: Das Haus Raststraße 1. In der Einfahrt recht unmittelbar neben der Hauswand explodierte eine Artillerie- oder Panzergranate NICHT. Deshalb blieb das Haus nahezu unversehrt. In dem Hof links vom Haus (hinter den Fliederbüschen) bezog in den ersten Nachkriegstagen eine amerikanische Feldküche Quartier.

Da das Fabrikgebäude im Hinterhaus zu klein wurde, hatten die drei Firmeninhaber 1937 eine leer stehende Porzellanfabrik in Creidlitz gekauft, aus- und umgebaut und den Betrieb 1938 nach Creidlitz verlegt, Betriebsfläche auf 4 Ebenen ca 2400 qm. Man hatte jede Menge Schulden, und dann kam der Krieg. Mit einem Schlag waren 2 der 3 Inhaber Soldaten. Außerdem waren sämtliche wehrfähigen Mitarbeiter weg. Der Großvater stand mit Frauen und einigen Rentnern allein da. Im Laufe des Krieges wurde das Fabrikgebäude in Creidlitz auch als Lager für Wehrmachtsgüter benutzt (Zwangwirtschaft) und hatte zur Bewachung einige deutsche Soldaten.

Anfang April 1945 wurde an einem Sonntag gegen 17 Uhr Coburg aus der Luft angegriffen. Die Großeltern, also Franz Müller und seine Frau Emma, und auch wir wohnten in Coburg in der Raststraße beim Bahnhof. Aus Sorge, dass die Bahnhofsgegend besonders angegriffen würde und auch aus Sorge um die Firma machten sich meine Großeltern, meine Mutter, mein Bruder und ich gegen 22 Uhr auf den Weg nach Creidlitz. Einige Kleidungsstücke, Decken und einige Lebensmittel führten wir auf einem Handwagen mit.

In Coburg brannten einige Gebäude, und am Güterbahnhof war ein kompletter Zug mit Munition oder Treibstoff in Brand geschossen worden. Da wir im Krieg nur eine verdunkelte Stadt kannten, war der Feuerschein für uns Kinder beeindruckend. (Wenn ich heute einem meiner Enkel erzähle, dass jahrelang kein Lichtschein auf die Straßen fallen durfte und es natürlich auch keinerlei Straßen- oder Schaufensterbeleuchtung geben konnte, ernte ich fassungsloses Staunen.)

In Creidlitz im Firmengebäude durften mein Bruder und ich auf Feldbetten bei den Soldaten schlafen, die Erwachsenen übernachteten im Keller auf Liegestühlen.

In den nächsten Tagen war die Annäherung der Front von Süden her nicht zu überhören. Die amerikanischen Geschütze feuerten südlich von Niederfüllbach nach Coburg. Im Fabrikhof in Creidlitz hörten wir das Zischen der Granaten über unseren Köpfen, dann den Abschuss. Als Kind kennt man keine Angst. Außerdem beruhigten uns die Soldaten:“Schlimm ist es erst, wenn man das Zischen nicht mehr hört:“ Was sich dahinter verbarg, ahnte ich als Kind natürlich nicht.

In diesen Stunden fielen nun einige wichtige Entscheidungen, die das Überleben der Firma betrafen. Die deutschen Soldaten waren einerseits Bewacher des Wehrmachtslagers. Sie hatten aber auch den Befehl, das Lager zu vernichten, falls der „Feind“ Creidlitz überrollt. Dazu hatten sie zwar keinen Sprengstoff, aber 2 Fässer Benzin. Um jeglichen Unfug damit auszuschließen, hatten meine Großmutter und meine Mutter bereits in der Nacht davor die beiden Fässer in das anschließende Gartengelände gerollt und abgelassen. Sie waren in der berechtigten Hoffnung, dass die Soldaten den Frauen nichts tun würden. Deshalb hatte der Großvater auch nicht mitgeholfen. Um den Soldaten aber einen Befehlsnotstand zu ersparen, kam von meinem Großvater der Vorschlag, die Wehrmachtsgüter einfach mit Hilfe der Bevölkerung aus den Fenstern zu werfen und zur Mitnahme freizugeben. Dieser Vorschlag wurde angenommen und ausgeführt. Die Soldaten machten sich zu Fuß und per Fahrrad davon, vermutlich Richtung Coburg.

Bei den eingelagerten Gegenständen handelte es sich um Gasmaskenbehälter, Gasplanen zum Schutz bei Gasangriffen und Kisten zum Aufbewahren von Fernmeldegerät. Innerhalb von Stunden war Straße und Grundstück davon befreit. Die Leute haben alles mitgenommen.

Nach dem Krieg wurden die Gasmaskenbehälter zu Blumengießern umgearbeitet, Die Gasplanen waren aus einem durchscheinenden Kunststoff, vermutlich PVC (1945 ?). Sie waren ca 2×3 m groß. In den ersten Nachkriegsjahren gab es in und um Coburg jede Menge Regenmäntel davon, teils auch unterfüttert. Auch Handtaschen wurden damit überzogen. Die Kisten sind wohl meist verheizt worden. In der Firma Franz Müller gab es noch 2 Stück, eine wurde als Werkzeugkiste bei Messen verwendet.

Mein Großvater war ein strikter Nazi-Gegner und trotz mehrmaliger Aufforderung auch nicht als „Mitläufer“ in die Partei eingetreten. Sein Name soll deshalb bereits auf einer „schwarzen Liste“ gestanden haben. Als die Amerikaner jedoch Creidlitz einnahmen und in jedes Haus gingen, war er offenbar sehr aufgeregt. Zwei dunkelhäutige Soldaten betraten das Firmengebäude, und der Nazi-Feind Franz Müller begrüßte sie laut mit „ H e i l H i t l e r “.! Das hätte auch schwerwiegende Folgen haben können, schließlich waren das Kampfeinheiten. Aber die beiden lachten – zum Glück.

Nachdem die Amerikaner das Fabrikgebäude in Creidlitz in Beschlag genommen hatten, packten wir wieder unseren Handwagen und gingen nach Coburg zurück. An der Straßengabelung am Ortsausgang Creidlitz, wo sich jetzt ein Reifen-Service befindet, standen größere Bäume. An einem hing ein deutscher Soldat, den ein rollendes Kriegsgericht praktisch am letzten Tag wegen Desertation hatte töten lassen. Unfassbar! Mit an der Deichsel unseres Handwagens gehend, musste ich das als Siebenjähriger ansehen.

Zurück in der Raststraße in Coburg, wurden einige Fenster mit Papier verklebt werden, da Tiefflieger in das Haus geschossen und Fenster zu Bruch gegangen waren. Außerdem lag in der Einfahrt zum Rückgebäude eine ca 50 cm lange Artilleriegranate, ein „Blindgänger“. Wäre sie explodiert, wäre das Haus Raststr. 1 wahrscheinlich eingestürzt. Im Hof auf der linken Seite – zum Eckhaus zur Bahnhofstraße gehörend – hatten die amerikanischen Soldaten ihre Feldküche aufgebaut. Sie versorgten uns in den ersten Tagen mit warmem Essen, Schokolade, Kaugummi, und auch mit Zigaretten. So habe ich mit 7 Jahren zum ersten Mal geraucht.

Für uns Kinder begann ein schöner Sommer, denn wir hatten bis zum Herbst keine Schule. Der Schuljahresbeginn wurde 1945 von Ostern auf September verlegt. Übrigens gab es im Krieg bereits die sog. Sommerzeit. Man hat sie 1945 abgeschafft und später in ganz Europa wieder eingeführt.

Im Juni kam mein Vater aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück, und auch der Onkel kam noch 1945 wieder heim. In der Firma musste man bei Null anfangen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Firma Franz Müller blieb bis 1985 in Creidlitz und zog dann – weil wieder einmal alles zu klein war – nach Niederfüllbach in ein Betriebsgebäude mit immerhin ca. 12500 qm Nutzfläche. Dort ist sie noch immer, wenn auch seit 2002 mit anderem Inhaber, und gedeiht weiter.

Das Betriebsgebäude in Creidlitz, Hambacher Weg 12, das ich von Kind auf kannte, und in dem ich auch 30 Jahre gearbeitet habe, wurde Ende der Neunziger Jahre unter Denkmalschutz gestellt. Wir haben es im Jahr 2000 verkauft. Es wurde umgebaut zu einem Lofthaus. Es ist in das Buch für Neue Bayerische Industriedenkmäler aufgenommen worden, einzusehen im Stadtarchiv. Ich hoffe, die heutigen Bewohner fühlen sich dort wohl.

Günther Wagner

Dezember 2009

raststr
Das Firmengebäude in Creidlitz, Hambacher Weg 12 wie es auch bei Kriegsende aussah. Das Luftbild stammt von 1955 oder 1956.
Das unter Denkmalschutz stehende Loft-Haus Hambacher Weg 12 heute.